Heines Tanzpoem; Ballette und Pantomimen
„Mit den Faust-Balletten und -Pantomimen ist es merkwürdig genug. Es gibt sie in großer Fülle seit dem frühen 17. Jahrhundert, aber das literarisch bedeutendste unter ihnen wurde niemals authentisch und vollständig aufgeführt: Heinrich Heines Tanzpoem Der Doktor Faust. Als Auftragsarbeit für das königliche Theater in London geschrieben, wurde Heines Ballett mit einem weiblichen Teufel im Mittelpunkt von den Stücken jener ,Tanzaffen‘; verdrängt, die gefällige choreografische Meterware lieferten und von denen sich der Dichter Heine sogar geistig bestohlen wähnte. — Die Geschichte der Faust-Ballette und -Pantomimen beginnt paradoxerweise mit Christopher Marlowe, genauer, mit den Englischen Komödianten, die seine Tragödie aufs europäische Festland brachten. Der Sprache im neuen Gastspielland nicht mächtig, machten die Wandertruppen aus dem problembefrachteten Gedankendrama ein Spektakelstück voller treffsicherer Theatereffekte, und bei diesen Unterhaltungsproduktionen für Auge und Ohr durften natürlich auch tänzerische Einlagen nicht fehlen. Diese Einlagen weiteten sich im Lauf der Entwicklung immer mehr aus, so sehr, dass bald selbstständige Faust-Ballette aufgeführt werden konnten, mit dem zaudernden, grübelnden Gelehrten am Anfang, mit der grausig inszenierten Teufelsbeschwörung zu mitternächtlicher Stunde am Kreuzweg vor der Stadt, mit Streichen, Abenteuern und Zauberkunststückchen Fausts, und — dies vor allem — mit seiner Höllenfahrt am Ende: willkommener Anlass für die Mimen, Tänzer, Akrobaten und für die sie begleitenden Musiker, alle Register ihres Könnens zu ziehen für eine infernalische Supershow mit Lärm, Dissonanzen, hämischer Gewalttätigkeit seitens der Teufel und mit dem totalen Zusammenbruch des eben noch so hochfliegenden Paktierers. – In den Balletten und Pantomimen um Faust spielte natürlich das Moment der Erotik von jeher eine wichtige Rolle: hier bot sich am ehesten die Gelegenheit zu expressiven pas-de-deux und zu kontrastreichen Konfigurationen. Das erotische Moment ist auch in den neuesten Faust-Balletten noch zentral, in den Arbeiten von Maurice Béjart etwa oder im [...] Abraxas von Werner Egk [...].“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 135]
„Heines »Tanzpoem« ist bis heute nie vollständig aufgeführt worden. Dass es in den Jahren um 1850 nicht vereinbarungsgemäß auf die Londoner Bretter kam, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die »schwedische Nachtigall« Jenny Lind die dortige Bühne ihres Dauererfolges wegen für Heine regelrecht blockierte. — Fast genau 100 Jahre nach Heines Manuskript-Ablieferung hatte 1948 in München Werner Egks Ballett »Abraxas« (1948) Premiere, das sich erklärtermaßen eng an Heines Libretto anlehnte und dessen bayrische Bühnenkarriere wegen derselben Passage havarierte, die man schon bei Heine als anstößig empfunden hatte, nämlich dem Treiben auf dem Blocksberg mit seinen höchst delikaten und in perversem Byzantinismus hinterrücks applizierten Formen der Verehrung Satans. Die Münchner Inszenierung wurde nach wenigen Aufführungen durch das Einschreiten des Kultusministers Alois Hundhammer als Obszönität abgesetzt; auf der anschließenden Tournee durch mehrere deutsche Städte feierte »Abraxas« Triumphe.“ [Mahal, S. 50]
„Eine vollständige Übersicht über die Faust-Ballette und -Pantomimen zu geben, fällt schwer und ist auch Roland Lillie nicht gelungen, der 1967 eine große Untersuchung mit dem Titel Der Faust auf der Tanzbühne. Das Faustthema in Pantomime und Ballett vorlegte. Die Schwierigkeiten liegen zum einen darin, dass diese Gattung oft als bloße Unterhaltung eingeschätzt und deshalb von den zeitgenössischen Chronisten gar nicht erst der Erwähnung für wert befunden wurden. Zum anderen existierten kaum jemals ,Drehbücher‘, die den genauen Handlungsverlauf oder gar die Choreografie im Einzelnen wiedergegeben hätten. Oft blieben nur die Titel von Balletten oder Pantomimen übrig, manchmal auch die Namen der Tanzmeister, selten die der Komponisten. Angaben über die Aufführungsjahre schwanken häufig. Vor allem ist zu betonen, dass auch die von den Englischen Komödianten seit Anfang des 17. Jahrhunderts aufs europäische Festland gebrachten Volksschauspiele oft mit pantomimischen und tänzerischen Elementen arbeiteten: Mochte Marlowes Name auch noch auf den Theaterzetteln auftauchen — sein Stück wurde im fremdsprachigen Ausland vornehmlich auf jene Handlungsstränge reduziert, die sich in spektakulären Aktionen präsentieren ließen, mit viel Bewegung, Mienenspiel, Körpersprache und Musikbegleitung, oft auch ganz wörtlichem Höllenlärm.“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 135]
„Über 20 Jahre, bevor Heine 1847 in Paris sein Tanzpoem schreibt, hat er sich schon einmal mit einem Faust-Plan beschäftigt: 1824 — 26. Sein Studienfreund Wedekind überlieferte Folgendes: ,Wir kamen auf Goethes Faust zu sprechen. »Ich denke auch einen zu schreiben«, sagte er »nicht um mit Goethe zu rivalisieren, nein, nein, jeder Mensch sollte einen Faust schreiben. « — »Da möcht ich Ihnen raten, es nicht drucken zu lassen; sonst würde das Publikum ... « — »Ach hören Sie«, unterbrach er mich, »an das Publikum muß man sich gar nicht kehren ... « — »aber man soll es auch nicht im voraus gegen sich einnehmen, um ihm ein unbefangenes Urteil zu lassen, und Sie würden es gewiß einigermaßen gegen sich einnehmen, wenn Sie nach Goethe einen Faust schreiben. Das Publikum würde Sie für arrogant halten ... « (Zitiert nach: Roland Lillie, Der Faust auf der Tanzbühne. diss. München 1968, S. 104).“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 137 f. ]
Faust-Museum Knittlingen:
Faust-Museum Knittlingen. Exponate, Materialien, Kommentare. / Zusammengestellt von Günther Mahal unter Mitarbeit von Brigitte Bruns und Ottmar Maier – Stuttgart : Verlag Paul Daxer, 1980.
ISBN 3-922815-00-6
Mahal, Günter:
Faust und Frankfurt. Anstöße, Reaktionen, Verknüpfungen, Reibungen / Günter Mahal. - Frankfurt am Main: Verlag Waldemar Kramer, 1994. 160 S.
ISBN 3-7829-0446-x
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